17.

Simon erzählte Julia von seinen Steinen und dass sie manchmal zu ihm sprachen, wenn er sie in der Hand hielt. Julia merkte, wie er versuchte, ihre Gedanken zu lesen. Dabei dachte sie gar nichts. Sie war ganz offen für ihn und das, was er ihr erzählte.

Schließlich schwieg Simon und sie wagte nicht, seine geheimnisvolle Stille zu durchbrechen. Irgendwann sah er nach dem Stand der Sonne und fragte: »Wie spät ist es eigentlich?«

Julia blickte auf ihre Armbanduhr. »Kurz nach sechs.« Wo war die Zeit geblieben?

»Wir müssen los«, sagte er bedauernd. »Ich habe versprochen, Abendessen zu kochen, und kann es mir nicht leisten, schon wieder in Ungnade zu fallen. Ada wird mir die Hölle heißmachen, wenn das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch steht.«

Nur widerstrebend ließ Julia sich von ihm auf die Beine ziehen. Sie hätte bis in alle Ewigkeit so sitzen können und Simons Geschichten lauschen. Seine Offenheit hatte alles verändert. Er war ihr nah; so nah, dass ihr schwindelte.

Noch ganz benommen sprang Julia hinter Simon ins Beifußgebüsch. Als sie das bedrohliche Klappern hörte, hatte er sie auch schon zur Seite gerissen. Ein Laut des Erstaunens kam aus ihrer Kehle. Die ausgewachsene Klapperschlange gut einen Meter lang verschwand in einem Spalt zwischen den Steinen und ringelte sich dort zusammen. Julia starrte das Reptil an, das drohend den Kopf hob und mit seinem Hornschwanz klapperte.

»Lass mich vorgehen, okay?« Simon zog sie hinter sich her.

Mit weichen Knien folgte sie ihm. »Gibt es hier viele davon?«

»Einige. Pepper warnt mich sonst immer.«

Nach einigen Schritten blieb Simon plötzlich stehen und begann, sie auf seine scheue Art zu küssen. Dann lief er weiter, den Blick wieder wachsam auf den Boden gerichtet. Auf dem Weg zur Ranch wiederholte sich das mehrere Male: Er blieb unerwartet stehen, zog Julia an sich und küsste sie. Dann stand er einen Moment mit geschlossenen Augen da und sein Körper wankte, als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Immer, wenn sie anfing, sich ernsthaft Sorgen um ihn zu machen, schlug er die Augen auf, lächelte und zog sie weiter.

Irgendwann lachte auch Julia, völlig atemlos, als sie schon auf dem Vorplatz angelangt waren und er ihr den vermutlich zehnten Kuss gab.

Ada hatte schon damit begonnen, das Abendessen vorzubereiten, und empfing sie mit grimmiger Miene. Geschälte Kartoffeln lagen auf dem Küchentisch, eine Dose Erbsen stand geöffnet bereit und in einer Schüssel wartete rohes Hackfleisch darauf, verarbeitet zu werden.

Julia und Simon kümmerten sich darum, dass alles auf den Herd kam, während die alte Frau Tommy aus einem Gläschen fütterte. Später zogen sich die beiden Alten mit ihren Tellern ins Wohnzimmer vor den Fernseher zurück, während Julia und Simon sich an den Tisch setzten, um zu essen. Julia spottete über die Erbsen, die zerkocht waren und nach nichts schmeckten.

»Die sind schon lange hinüber«, flüsterte sie naserümpfend. »Und so sehen sie auch aus.«

Simon lachte. Er hätte immerzu lachen können. In der rechten Hand hielt er die Gabel, seine Linke hielt Julias Hand. Er wollte sie am liebsten nie mehr loslassen. Und er wollte so schnell wie möglich raus aus diesem Haus, um mit Julia allein zu sein.

Als ihre Teller leer waren, beugte er sich zu ihr und küsste sie. Diesmal schon mit größerem Selbstvertrauen. Als sie sich von ihm löste, und ihre Augen immer größer wurden, drehte er den Kopf zur Seite. Tommy hockte im Durchgang zum Wohnzimmer auf dem Boden. Er schaukelte seinen nackten braunen Oberkörper vor und zurück und trotz seiner blinden Augen hatte Simon das Gefühl, als würde er sie nachdenklich ansehen. Beinahe machte es den Eindruck, als würde ein wissendes Grinsen auf Tommys Gesicht liegen.

Wie froh war Simon, als Julia den Abwasch freiwillig übernahm. Er griff nach einem Handtuch und trocknete ab. Zu zweit ging ihnen die Arbeit flott von der Hand. Aber als Simon Julia von hinten um die Hüfte fasste, um sie zu umarmen, glitt ihr ein Teller aus der Hand. Er schepperte auf das übrige Geschirr und zerbrach.

»He«, rief Ada aus dem Wohnzimmer, »lasst mein Geschirr ganz, Himmelherrgott noch mal!«

Tommy fing an zu kreischen und seine Großmutter beruhigte ihn. Beide kamen in die Küche. Tommy kletterte auf seinen Stuhl und Ada begutachtete mürrisch brummelnd den Schaden.

Mit eingezogenen Köpfen klaubten Simon und Julia die Scherben in den Mülleimer. Als sie fertig waren mit dem Abwasch, wünschte Julia ihren Großeltern eine gute Nacht. Sie ließ Simon leise wissen, dass sie auf ihn warten würde und begab sich mit ihrer Taschenlampe auf den Weg zum Trailer.

Simon blieb noch einen Moment im Haus, damit es nicht so aussah, als würde er Julia hinterherlaufen. Als er endlich auch verschwinden wollte, hatte Ada plötzlich noch eine Aufgabe für ihn. Sie bat Simon, auf einen Stuhl zu steigen und einen Karton für sie herunterzuholen, der ganz oben auf dem hohen Holzregal stand.

Simon, der in Gedanken schon bei Julia war, riss versehentlich einen anderen Karton mit herunter. Der Deckel löste sich und unzählige Papiere und Fotos fielen heraus. Sie flogen unter die Schränke, schwebten in die Vorratsfächer, unter den Herd und verteilten sich auf dem Boden.

Ada ließ einen entrüsteten Schrei hören. »Was zur Hölle ist eigentlich los mit dir, Junge?«, brüllte sie. »Wo bist du bloß mit deinen Gedanken?«

»Ich glaube, er ist verliebt«, brummte Boyd von nebenan. Ada war so laut gewesen, dass selbst er ihre Frage verstanden hatte.

»Verliebt? In wen?« Die alte Frau starrte Simon an, als wäre das etwas, das sie niemals für möglich gehalten hätte. Nicht bei ihm, dem schweigsamen Einsiedler, dem Stotterer.

Ihm schoss die Hitze ins Gesicht.

»Schon gut«, sagte Ada, tiefe Falten auf der Stirn. »Ich will es gar nicht wissen.«

Erleichtert bückte Simon sich nach den Fotos, die überall herumlagen, und begann, sie in den Karton zu sammeln. Es waren Fotos von Ada als junger Frau. Auf einem davon trug sie einen Rock und lachte in die Kamera. Sie war hübsch und er erkannte die Ähnlichkeit mit Julia.

Simon angelte gerade ein Foto unter dem Herd hervor, als er eine schwere Hand auf seiner Schulter spürte. Es war Boyd, der neben ihm stand.

»Lass gut sein für heute«, sagte der alte Mann, »die Fotos laufen nicht weg. Aber die Kleine, die wartet sicher schon auf dich.«

Simon erhob sich und legte das Foto zu den anderen in den Karton. Dankbar sah er Boyd an.

»Nun geh schon. Du kannst den Rest morgen aufsammeln.«

Julia saß auf den Holzstufen vor ihrem Trailer und wartete auf Simon. Seit sie ihn im Ranchhaus zurückgelassen hatte, waren nur ein paar Minuten vergangen und doch vermisste sie ihn schon. War das Liebe?

»Ach Pa«, flüsterte sie, »du wüsstest bestimmt eine Antwort.« Simon tut mir so gut. Er braucht mich und ich brauche ihn. Ich wünschte, du könntest ihn kennenlernen. Bestimmt hättest du ihn gern.

Der Strahl einer Taschenlampe tauchte aus dem Dunkel. Simon kam den Weg entlang. Julia rutschte ein Stück zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte. Er erzählte ihr von seinem Missgeschick.

»Deine Granny w-eiß das mit uns.«

»Na und?«

»Ich fürchte, es gefällt ihr nicht.«

»Und warum glaubst du das?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ist so ein Gefühl.«

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Hast du etwa Angst vor ihr?«

»Ein bisschen vielleicht. Sie k-ann in die Menschen hineinsehen, als hätte sie Röntgenaugen.«

»Mag ja sein. Aber sie hat nicht die Macht zu ändern, was sie sieht.«

Simon legte seinen Arm um Julias Schultern. »Ich habe Fotos von deiner Grandma gesehen, als sie nicht viel älter war als du«, sagte er. »Du siehst ihr ähnlich.«

»Oje«, entfuhr es Julia. Das war nicht gerade ein Kompliment.

Simon lächelte. »Sie war hübsch.«

»Aber jetzt sieht sie aus wie ein alter Baum.«

»Wenn ich mal fünfundsiebzig bin, möchte ich auch aussehen wie ein alter Baum.«

»Du magst sie tatsächlich.«

»Ich respektiere sie.«

»Sie sagt niemals Danke.«

»Nur zu den Menschen nicht. Der Erde dankt sie jeden Tag.«

Julia ahnte, dass Simon nie etwas Schlechtes über ihre Großmutter sagen würde. Ada hatte ihm ein Zuhause gegeben und er würde ihr immer dankbar sein dafür. Vielleicht tat er deshalb alles, was sie von ihm verlangte.

Sie blickten beide in den Himmel, wo Millionen Sterne funkelten, so nah, wie Julia es noch nie zuvor erlebt hatte. In diesem Moment fiel eine Sternschnuppe, ein kleines, kurz aufleuchtendes Licht am

nächtlichen Himmel.

»Du darfst dir was wünschen«, sagte Julia.

»Du aber auch«, erwiderte er.

Julia glaubte zu wissen, was er sich wünschte. Der Gedanke löste ein nervöses Gefühl in ihr aus, das jedoch nicht unangenehm war. Sie schloss die Augen und wünschte sich ganz fest, wieder glücklich zu sein. Denn das, wonach sie sich am meisten sehnte, konnte nicht Wirklichkeit werden. Sie wollte ihren Vater wiederhaben und das würde nicht passieren.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Simon.

»Ja. Ich bin so froh, dass du da bist.«

Simon gab ihr einen sehnsüchtigen, bebenden Kuss. Sein Wunsch war nicht unerfüllbar. Es erschreckte Julia, dass niemand da war, der sie daran hindern würde, mit Simon zusammen zu sein. Nur sie selbst stand sich noch im Weg.

Julia war nicht immun gegen das, was Simons Küsse in ihr auslösten. Und doch wünschte sie, er würde gehen. Geh!, dachte sie. Nein, bleib.

Er schien zu spüren, was in ihr vorging, küsste sie ein letztes Mal und stand auf. »Es ist in Ordnung«, sagte er.

»Ich . . .«, begann Julia, dann verstummte sie.

»Schlaf gut, okay?«

»Ja. Du auch.«

Die verborgene Seite des Mondes
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